Heute werden Handelsfragen zwar von den meisten Marketinglehrstühlen mitvertreten. Aber sowohl sachlogische Zusammenhänge als auch Rückmeldungen aus der Unternehmenspraxis lassen das Vereinbarkeitsproblem in der Lehre erkennen: Im Marketing (im Kern industrielle Absatzlehre für Konsumgüter) sind Techniken zu vermitteln, wie bei überbordendem Konsumgüterangebot die Waren in die Handelssortimente “hineingedrückt” oder “hineingezogen” werden (Push-and-pull-Methoden). Gleichzeitig müss(t)en den Handelsunternehmen völlig konträre Techniken vermittelt werden: wie, wann und anhand welcher Kriterien die Waren aus dem Sortiment ausgeschlossen, ausgesondert oder ausgelistet werden! Als Reaktion auf das lawinenartig vordringende Marketing und um dem Vereinbarkeitsproblem aus dem Weg zu gehen, versucht ein eigenständiges Handelsmarketing, die Marketing-Techniken zu modifizieren und auf die systematische Erforschung und Gestaltung aller vier Märkte von Handelsunternehmen (Absatz-, Beschaffungs-, Konkurrenz- und interne Märkte) auszuweiten - ein Paradigmenwechsel: Im Marketing sind Handelsunternehmen Objekte industrieller Marketingkonzepte, im Handelsmarketing sind sie Subjekte eigenständiger Marketingkonzepte. Übrigens wurde mein Konzept des 4-Märkte-Ansatzes von zahlreichen Autoren übernommen. So gliedert z.B. der ehemalige "Handelspapst" Bruno Tietz in seiner Monographie "Marktbearbeitung Morgen. Neue Konzepte und ihre Durchsetzung" den Datenrahmen des Unternehmens in Kundenpolitik, Lieferantenpolitik, Konkurrentenpolitik und Partnerpolitik. Ein Trost bleibt:
Beliebigkeits-Marketing?
In seiner Studie “Gruppengütermarketing” teilt Markus Voeth mit, dass eine Analyse der Amazon-Bücherlisten zum Stichwort “Marketing” nicht weniger als 108 “Marketingperspektiven” ergeben habe, von “Absatzmarketing” bis “Zuliefermarketing”. Indes dürfte sein eigenes neues Stichwort nicht die 109. “Marketingsperspektive” sein, wenn man an die unendliche Geschichte der (bei Amazon nicht auftauchenden) “Bindestrich-Marketing”-Konzepte denkt: “Fraktales Marketing”, “Guerilla-Marketing”, “Reverse Marketing”, "Stomach-Marketing" usw. usw. Eine Verdreifachung der “Marketingpserspektiven” dürfte sich ohne weiteres nachweisen lassen. In fast jedem anspruchsvolleren Marketing-Aufsatz - und dazu zählt auch der Aufsatz über Chancen des Mobile Marketing im Rahmen von Multichannel-Strategien” von D. Möhlenbruch und U.-M. Schmieder in Thexis 2/2002, S. 27-33 - tauchen heutzutage gleich mehrere “Marketingperspektiven” auf; in dem genannten Aufsatz auf nur sieben Seiten immerhin sechs: “Direkt-Marketing”, “Mobile Marketing”, “Multichannel-Marketing”, “One-to-One-Marketing”, “Permission Marketing” und “Viral Marketing”. Sicher ist es purer Zufall (und hat mit “Gruppengütermarketing” oder “Mobile Marketing” direkt
nichts zu tun), wenn die Kollegen Manfred Bruhn, Basel, und Christian Homberg, Mannheim, in einem werbenden Begleitschreiben zum neu erschienenen Gabler Marketing Lexikon mahnen: “Vor dem Hintergrund der Schein-Innovationen von Marketingbegriffen ist es für eine
gemeinsame Verständigung im wissenschaftlichen Bereich und in der Lehre wichtig, das Marketingvokabular konsistent zu verwenden.” Kein Trost freilich:
Fragen, Anmerkungen oder fachliche Kritik erwarte ich gern unter meiner E-Mail-Adresse h.-o.schenk at t-online.de
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